Manche Geschichten fangen anders an, als man denkt

02.11.2023

Ein persönlicher Rückblick auf die ersten Jahre des Erinnerungspolitischen Fachtags von Uwe Hirschfeld

 

Manche Geschichten fangen anders an, als man denkt. So auch die Geschichte des Erinnerungspolitischen Fachtags in Sachsen. Die Geschichte geht so: Seit 1992 hatte ich mich an der Evangelischen Hochschule Dresden (EHS) mit der Schulsozialarbeit befasst. In den ersten Jahren war das mit einem gewissen Optimismus verbunden, hätte man doch all die Fehler, die in den Jahren zuvor in den westdeutschen Bundesländern gemacht worden waren, vermeiden können, aber dann zeigte sich, dass das Kultusministerium in Dresden daran kein Interesse hatte. Irgendwann hatten wir mal ausgerechnet, dass in Sachsen mehrere tausend Schüler*innen auf eine/n Sozialarbeiter*in kamen. Und daran ließ sich damals trotz aller unserer Bemühungen nichts ändern. Wo ein Ministerpräsident meinte, in Sachsen gäbe es keine Nazis, da meinte halt auch der Kultusminister, dass es keine Sozialarbeiter*innen braucht – was ja nicht weiter zu kommentieren ist.

 

Jedenfalls entschloss ich mich, mir ein anderes Praxisfeld zu suchen, um nicht permanent frustriert zu werden. Erinnerungsarbeit, Gedenkstättenpädagogik und Geschichtspolitik: das wäre doch mal was ganz anderes als Schule! Und so kam ich vom Regen in die sächsische Traufe.

 

Für die VVN-BdA Sachsen ging ich, wenn ich mich richtig erinnere, 2013 in den Beirat der Stiftung Sächsische Gedenkstätten und war entsetzt, wie die Geschäftspolitik der Stiftung kleine und größere Initiativen zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ignorierte, ausbremste und behinderte. Erinnerungsarbeit war top-down gedacht und begrenzt auf wenige Orte. Dass es Geschichtswerkstätten geben könnte, dass Erinnerungsarbeit lokal und von Laien betrieben werden könnte, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus etwas mit einem kritischen Verständnis der Gegenwart zu tun haben könnte – in anderen Bundesländern (mehr oder weniger) eine Selbstverständlichkeit – lag fern der obrigkeitsstaatlichen Vorstellungskraft, genauer gesagt: außerhalb des politisch Gewollten.

 

Also mussten wir das selber auf die Tagesordnung setzen, erstmal auf die eigene. So organisierten wir im Mai 2014 den ersten Erinnerungspolitischen Fachtag unter der Überschrift „Erinnern wozu?“ an der EHS. Überraschend viele interessierte und neugierige Menschen kamen. Übrigens auch ein Herr Reiprich, damaliger Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, der danach allerdings nie wieder kam. Die Vorträge waren thematisch weit gespannt, spannend waren aber vor allem die anschließenden Diskussionen, auch in den Pausen. Was sich artikulierte, war eine große Unzufriedenheit mit der erinnerungspolitischen Situation in Sachsen. Deutlich wurden viele Verletzungen, die sich engagierte Menschen, junge wie alte, Fachleute wie Laien, eingehandelt hatten, weil sie wenig Anerkennung erfuhren, kaum Unterstützung bekamen. Natürlich war das sehr unterschiedlich, die Landeszentrale für politische Bildung war oftmals hilfreich, manche Kommunen unterstützend. Aber die Leitung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, zu deren Aufgaben das eigentlich gehörte, war das alles nicht. Jonas Kühne sollte dann im Rückblick auf diese Jahre der Stiftung Sächsische Gedenkstätten die treffende Bezeichnung „vom verlorenen Jahrzehnt“ prägen.

 

Nun will ich nicht alle weiteren, der dann jährlich stattfindenden Fachtage aufzählen. Sie alle hatten nur ein sehr kleines finanzielles Budget, das oft nur reichte, Referent*innen die Fahrt- und Übernachtungskosten zu erstatten, Kaffee und Tee kochten Studierende, die Hochschule stellte die Räume für Vorträge und Kleingruppenarbeit. Die zwischen 60 und 80 Teilnehmer*innen waren zumeist in der einen oder anderen Form selbst aktiv beteiligt, z.B. in dem sie ihre Projekte vorstellten. Wichtig waren das persönliche Kennenlernen und der gemeinsame Erfahrungsaustausch. Dies dürfte dann auch mit dazu beigetragen haben, dass die Idee einer ständigen Arbeitsgemeinschaft zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus dort geboren und bis zur Gründung der sächsischen Landesarbeitsgemeinschaft Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (sLAG) entwickelt wurde. Dass nun die Erinnerungspolitischen Fachtage von der sLAG organisiert werden, ist ganz im Sinne der Geschichte, die hier als meine Geschichte ein gutes Ende nahm.
 
Uwe Hirschfeld, Vorstand sLAG-Förderverein

 

Uwe Hirschfeld beim Fachtag in Mittweida 2021 (Foto: sLAG)